- Romantik: Zwischen Volkspoesie und Reflexion
- Romantik: Zwischen Volkspoesie und ReflexionIm Gegensatz zur Klassik, die mit Weimar ein örtliches Zentrum hatte, entwickelte sich die romantische Bewegung, die um 1795 einsetzte und um 1830 ausklang, an verschiedenen Orten Deutschlands. Zwar standen die Vertreter brieflich, durch Mitwirkung an Publikationen oder durch Besuche in Verbindung. Doch haben sich im Laufe der Zeit in den verschiedenen Städten so unterschiedliche Ideen herausgebildet, dass eine ortsbezogene Erläuterung der romantischen Bewegung besser zum Verständnis ihrer Ideen beiträgt als die übergreifende Darstellung von Themen, Motiven und Theorien.Die wichtigsten Zentren der Frühromantik, also der Phase bis zum Jahr 1800, waren Berlin und Jena. In Berlin veröffentlichten Ludwig Tieck und sein Freund Wilhelm Heinrich Wackenroder, die hier gemeinsam ihre Schulzeit verbracht hatten, bald nach dem Studium mehrere Werke, die die romantische Bewegung begründeten. Tieck, der als freier Schriftsteller zu leben versuchte, war der publizistisch Aktivere; von Wackenroder, der als Referendar am Kammergericht arbeitete, kamen viele Ideen. Angeregt wurden die Arbeiten beider durch das historische Interesse der Spätaufklärer an den Zeugnissen der europäischen Kultur, mit denen sie während ihres Studiums in Göttingen und Erlangen in Berührung gekommen waren.Im Herbst 1796 erschien zunächst ein gemeinsam verfasstes Buch mit dem Titel »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders«. Es handelt sich um eine Sammlung religiös inspirierter Kunstbetrachtungen, in denen neben der italienischen Malerei die wieder entdeckten Arbeiten Albrecht Dürers als Vorbild gefeiert werden. In den 1799, kurz nach Wackenroders frühem Tod veröffentlichen »Fantasien über die Kunst«, für die Tieck allein als Herausgeber zeichnete, stehen die Musik als höchste Kunstform und die Leiden des Künstlers an der Welt im Vordergrund. Auch an Tiecks Roman »Franz Sternbalds Wanderungen« (1798) war Wackenroder als Ideengeber und Autor beteiligt. In ihm werden die Kunstreflexionen im Rahmen eines Künstlerromans verarbeitet. Die Hauptfigur, ein Geselle Dürers, unternimmt hier eine mehrjährige Reise durch die Kunstzentren Flanderns und Italiens. 1797 publizierte Tieck unter dem Pseudonym Peter Leberecht außerdem die dreibändige Sammlung »Volksmährchen«. Sie enthält Bearbeitungen von Prosaromanen des 15. und 16. Jahrhunderts wie »Die Heymonskinder« oder »Die Schildbürger«, eigene Versionen von mündlich überlieferten Geschichten wie dem »Gestiefelten Kater« und Erzählungen wie den später berühmt gewordenen »Blonden Eckbert«, eine Schauergeschichte im Märchenton über Inzest, Wahnsinn und Mord.Damit sind in allen frühen Werken von Wackenroder und Tieck die zentralen Ideen der Romantik vorweggenommen: die Verherrlichung der Kunst des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, das Interesse an Zeugnissen der Volksliteratur wie Sagen und Märchen, die Entgegensetzung von Kunst und Leben, die Betonung des Fantastischen und Wunderbaren gegen den Rationalismus der Spätaufklärung und die Beschäftigung mit den Abgründen der menschlichen Existenz wie Wahnsinn, Grauen und Tod. Tieck hat später zahlreiche Bücher veröffentlicht, in denen er an seine frühen Arbeiten anknüpfte: Erzählungen, Romane, Volksbuchbearbeitungen in Dramenform, Editionen mittelalterlicher Texte und zeitgenössischer Autoren sowie zahlreiche Übersetzungen, etwa von Cervantes' »Don Quijote« und der älteren englischen Literatur. Er beeinflusste viele Vertreter der romantischen Bewegung und wurde zum letzten Repräsentanten der Frühromantik, an die er mit seiner späten Erzählung »Waldeinsamkeit« (1840) noch einmal erinnerte.Neben Berlin war Jena mit seiner Universität das zweite Zentrum der frühen Romantik. Hier kam es seit 1798 zu einem intensiven Austausch zwischen dem Philologen August Wilhelm Schlegel, seinem Bruder Friedrich Schlegel und den Philosophen Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Zu ihnen stießen als Besucher Ludwig Tieck, der mit Friedrich Schlegel befreundete Berliner Theologe Friedrich Schleiermacher und Schlegels Studienfreund Novalis, der eigentlich Friedrich von Hardenberg hieß, in Freiberg in Sachsen Bergwerkskunde und Naturwissenschaften studiert hatte und seit 1799 im Salinendirektorium in Weißenfels an der Saale arbeitete. Diese Verbindung von wissenschaftlicher Ausbildung, geordneter Berufstätigkeit und der Suche nach ästhetischen Lebensformen jenseits aller Beschränkungen einer bürgerlichen Existenz ist charakteristisch für die gesamte romantische Bewegung und erklärt die zum Teil großen Spannungen in den Biographien ihrer Vertreter, die sich auch in ihren Figuren niedergeschlagen haben.Die durch Kant begründete Philosophie des deutschen Idealismus wurde zur theoretischen Grundlage der Jenaer Frühromantik und hier zum Teil weiterentwickelt oder poetisch verarbeitet. Fichtes Auffassung, dass das Wissen aus der Reflexion hervorgeht und dass das Ich die Realität bis zur Unendlichkeit überbieten könne, hatte eine ebenso große Anziehungskraft auf die Romantiker wie Schellings Auffassung einer beseelten Natur. Die starke religiöse Orientierung vieler Vertreter der romantischen Bewegung ist dagegen durch Schleiermachers antirationalistische Deutung des Glaubens als »Geschmack fürs Unendliche« geprägt worden.Novalis und die Brüder Schlegel haben in ihrer später berühmt gewordenen Zeitschrift »Athenäum«, die in sechs Heften zwischen 1798 und 1800 erschien, die Ideen der idealistischen Philosophie auf die Kunst übertragen. Nicht die Nachahmung der Natur und der klassischen Muster (wie in der Aufklärung) oder die Fantasie des Genies (wie im Sturm und Drang), sondern die Reflexion wurde nun zum Prinzip künstlerischer Produktion erklärt. Die literarische Kritik wurde der schönen Literatur als ergänzendes Verfahren gleichgestellt und dadurch von einem wertenden zu einem produktiven Verfahren.Mit dieser Auffassung der Kunst als Einheit von Fiktion und Reflexion haben die Brüder Schlegel zusammen mit Novalis die Ideen der europäischen Moderne vorweggenommen und deren Autoren zum Teil beeinflusst - zum Beispiel Poe, Baudelaire, Valéry, Eliot, Benn. Doch ist die Bedeutung der frühromantischen Kunstauffassung als Vorläufer der Moderne erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erkannt worden, da die Überlegungen nur in Form von Aphorismen publiziert wurden. Sie werden im »Athenäum« als »Fragmente« bezeichnet, um ihre Vorläufigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit zu betonen. Dieses Schreiben in Fragmenten richtete sich bewusst gegen systematische Gedankengebäude und hat die Kunst der Moderne ebenfalls beeinflusst.In ihren literarischen Werken haben die Vertreter des Jenaer Kreises die Theorien allerdings nur zum Teil umgesetzt. In Friedrich Schlegels Roman »Lucinde« (1799) und Novalis' Roman »Heinrich von Ofterdingen« (1802) wird zumindest eine zentrale Idee verwirklicht, nämlich die Vereinigung aller Formen der Poesie vom Märchen über die Lyrik bis hin zu Novelle, Aphorismus und Essay. Friedrich Schlegel hat dieses Prinzip als »progressive Universalpoesie« bezeichnet. Es hat den Roman zur bevorzugten Gattung der Romantiker gemacht, was sich nicht zuletzt in der Bezeichnung der gesamten Bewegung als »Romantik« widerspiegelt. August Wilhelm Schlegel konzentrierte sich dagegen auf literaturhistorische Studien sowie auf Übersetzungen von Texten aus allen romanischen Sprachen und der Werke Shakespeares. Ihm folgte Friedrich Schlegel mit viel beachteten Arbeiten zur Philosophie und vergleichenden Sprachwissenschaft, wie »Über die Sprache und Weisheit der Inder« von 1808. Nach seiner Konvertierung zum Katholizismus im Jahre 1808 und der anschließenden Berufung zum Hofsekretär in Wien vertrat er jedoch einen rigiden kulturellen Konservatismus, der der politischen Restauration entsprach.Die zweite Generation der Romantiker formierte sich unabhängig von der Jenaer Frühromantik in Heidelberg zwischen 1805 und 1808 im Umkreis der Universität. Ihre Vertreter knüpften mehr an die nationalen und poetischen Interessen der Berliner Romantik an als an die Jenaer Gruppe. Wie die Freundschaft zwischen Tieck und Wackenroder in Berlin und die Zusammenarbeit zwischen den Brüdern Schlegel und Novalis in Jena, so wurde die Heidelberger Gruppe durch die Verbindung zwischen Achim von Arnim und Clemens Brentano geprägt.Arnim und Brentano gaben in Heidelberg ihre berühmt gewordene Sammlung alter deutscher Lieder unter dem Titel »Des Knaben Wunderhorn« in drei Bänden heraus (1806-08). Sie hat nicht nur die romantische Lyrik, sondern auch das akademische Interesse an der Geschichte der deutschen Sprache und Literatur beeinflusst, das schließlich zur Entstehung der Germanistik als Universitätsfach führte. Ebenfalls 1808 erschien in Heidelberg eine Darstellung der »Deutschen Volksbücher« von Joseph Görres, der hier mehrere Jahre als Privatdozent lehrte und mit Arnim und Brentano befreundet war. Während Arnim vor allem mit seinen Erzählungen Aufmerksamkeit fand, in denen Traum und Realität, Märchenstoff und Historie zu einer Einheit verbunden werden, wurde Brentano bekannt durch seine Gedichte, die an die volkstümliche Tradition anknüpften, zugleich aber auch die sprachexperimentellen Verfahren in der Lyrik der Moderne vorweggenommen haben.Arnim und Brentano haben nicht nur die schwäbischen Romantiker um Ludwig Uhland und Gustav Schwab beeinflusst, die mit Gedichten, Erzählungen, Editionen und literaturhistorischen Arbeiten die Bemühungen ihrer Heidelberger Freunde weiterführten. Sie inspirierten auch die Tätigkeit von Jacob und Wilhelm Grimm, die in Kassel, Göttingen und Berlin arbeiteten. Beide haben durch ihre sprach- und literaturhistorischen Werke und Editionen die dokumentarischen Bemühungen der romantischen Bewegung zum Teil vollendet. Zu nennen sind hier unter anderem die berühmt gewordenen »Kinder- und Hausmärchen« (1812-22), die »Deutschen Sagen« (1816-18), die »Deutsche Grammatik« (1819-37), die »Deutsche Mythologie« (1835) und das Projekt eines »Deutschen Wörterbuchs« (seit 1854), das erst 1961 abgeschlossen wurde und inzwischen neu bearbeitet wird.Auch Joseph von Eichendorff, der mit seiner 1826 erschienenen Erzählung »Aus dem Leben eines Taugenichts« zum populärsten deutschen Romantiker wurde, kam während seines Jura-Studiums an der Universität Heidelberg ab 1807 schon früh mit der romantischen Bewegung in Berührung. Eichendorff ging 1831 mit seiner Familie nach Berlin, das nun neben Wien mit Friedrich Schlegel und seinem Kreis sowie Dresden mit Ludwig Tieck und seinem Kreis zum Zentrum der Spätromantik wurde. An der 1810 gegründeten Berliner Universität lehrten Fichte und Schelling, in der Stadt lebten zeitweise Arnim und Brentano, und hier arbeiteten E.T.A. Hoffmann, Friedrich de la Motte Fouqué und Adelbert von Chamisso, die in ihren erzählerischen Werken die dunkle und fantastische Seite der Romantik fortführten und damit auch im Ausland bekannt wurden.Vor allem E.T.A. Hoffmann, der zeitweise in Bamberg als Kapellmeister arbeitete, bis er 1814 als Jurist an das Kammergericht in Berlin berufen wurde, hat in seinen Erzählungen und Romanen wie »Der Goldenen Topf« (1814), »Der Sandmann« (1816) oder »Lebensansichten des Katers Murr« (1820-22) zur internationalen Anerkennung der deutschen Romantik beigetragen. Doch sind die verschiedenen Richtungen zu ihrer Zeit keineswegs als Einheit aufgetreten oder bekannt geworden. Sie stießen vielmehr auf deutliche Ablehnung, die in Heines Schrift »Die Romantische Schule« (1836) ihren bekanntesten Ausdruck fand. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts begann die Aufwertung der Romantik, der im 20. Jahrhundert eine stets größer werdene Popularität folgte.Dr. Detlev SchöttkerMason, Eudo C.: Deutsche und englische Romantik. Eine Gegenüberstellung. Göttingen 31970.Romantik-Handbuch, herausgegeben von Helmut Schanze. Stuttgart 1994.Schulz, Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Band 1: Band 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration. 1806—1830. München 1983—89.
Universal-Lexikon. 2012.